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Am 3. April 2023 haben die Berliner CDU und SPD ihren Koalitionsvertrag „Das Beste für Berlin“ vorgestellt. Im Folgenden nimmt der Sprecher*innen-Kreis der Koalition der Freien Szene Berlin Stellung zum Kulturkapitel des Koalitionsvertrags. Die Koalition der Freien Szene ist die spartenübergreifende politische Interessenvertretung aller freien Künstler*innen und Kulturproduzent*innen in Berlin.
Kulturverständnis
Wir begrüßen, dass CDU und SPD ihre Kultur- und Medienpolitik auf soziale Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Gleichstellung, Weltoffenheit, Vielfalt und Inklusion ausrichten wollen. Auch erkennen wir das breite Kulturverständnis an, das der Berliner kulturellen Vielfalt Rechnung trägt. Ebenso freuen wir uns, dass die neue Koalition als Lehre aus Corona beabsichtigt, Künstler*innen und Einrichtungen in Zukunft auskömmlicher zu fördern, um sie krisenfester zu machen.
Leider jedoch vermissen wir im Kapitel „Kultur und Medien“ konkrete Vorschläge zur Ausgestaltung einer solchen auskömmlichen Kulturförderung. Zudem alarmiert uns die scheinbar undifferenzierte Gleichsetzung von gemeinnütziger Kunst und Kultur einerseits und profit-orientierter Kreativwirtschaft andererseits – handelt es sich doch um zwei völlig unterschiedliche Sektoren.
Künstler*innen arbeiten im Sinne der Freiheit der Kunst unbeeinflusst von Markt und Moden, um ergebnisoffen zu experimentieren, ungefällige Grenzen auszutesten und künstlerische Genres, Traditionen und Technikenautonom weiterzuentwickeln. Nur so kann die Kunst ein gesellschaftliches Korrektiv sein. Zudem sollen alle Menschen unabhängig von ihren finanziellen Mitteln an Kunst und Kultur teilhaben können. Aus diesen beiden Zielen leitet sich die staatliche Kulturförderung ab.
Akteur*innen des zweiten Sektors hingegen arbeiten auf Grundlage eines marktorientierten Geschäftsmodells, das Produkte unter Berücksichtigung von Trends und Zielgruppengeschmack verkauft. Die Produkte orientieren sich an Marktpreisen und sind nicht allen zugänglich.
Bei einer geplanten „Verzahnung“ von Kultur und Wirtschaft ist daher von entscheidender Bedeutung, den Kulturbegriff nicht zu verwässern, denn dies würde dazu führen, dass jegliche kreative Tätigkeit – auch wenn sie kommerziell orientiert ist – vom Privileg der staatlichen Kulturförderung profitiert.
Natürlich arbeiten Akteur*innen aus beiden Sektoren oft zusammen, beispielsweise im Rahmen von Festivals. Eine bessere und vereinfachte bürokratische Verzahnung kultureller und wirtschaftlicher Aktivitäten durch eine entsprechende Schnittstelle zwischen Kultur- und Wirtschaftsverwaltung erscheint daher sinnig. Auch begrüßen wir die Einbeziehung freier Kunst- und Kulturakteur*innen bzw. ihrer Interessenvertretungen in die Ausgestaltung eines Berliner Festivals nach dem Vorbild von SXSW oder die Liegenschaft Messe ICC zu einem Kultur- und Kreativstandort – da sie als Akteur*innen später dort auch auftreten werden und daher in die Gestaltung der Rahmenbedingungen eingebunden sein sollten.
Freie Szene
Die Passagen zur Freien Szene finden wir leider enttäuschend. Zunächst finden sich dort weder Aussagen zu Honoraruntergrenzen noch zu auskömmlichen Förderstrukturen. Gerade vor dem Hintergrund der existenziellen Bedrohung freier Künstler*innen und Kulturschaffender während der Pandemie und den daraus gezogenen Lehren müssten sich eine erhöhte Sichtbarkeit, Wertschätzung und ein besseres Verständnis ihrerArbeits- und Lebensbedingungen im Koalitionsvertrag niederschlagen.
Dass es mit einer Reform der KSK nicht getan ist, sondern vor allem auch die Förderstrukturen auf Landesebene überarbeitet werden müssen, sollte nach den letzten drei Jahren klar sein: Wir müssen von der überwiegenden Projektförderung hin zur Prozessförderung. Dabei muss die kuratorische Arbeit ebenso förderfähig sein wie die Recherche- und Konzeptionsphase der künstlerischen Arbeit.
Seit Ausbruch der Pandemie fordern wir einen Runden Tisch Freie Szene, an dem Verwaltung und Freie Szene die Förderstrukturen gemeinsam evaluieren und im Sinne der Resilienz der freien Kulturlandschaft überarbeiten. Wir appellieren nachdrücklich, dieses Format sobald wie möglich einzurichten.
Kulturelle Bildung und bezirkliche Kulturarbeit
Das Bekenntnis zur Stärkung der dezentralen bezirklichen Kulturarbeit, insbesondere in Außenkiezen, begrüßen wir. Auch die Aufnahme der Forderungen der Initiative „Kultur.Fördern.Gesetz“ nach einem eigenen Bibliotheken- und Musikschulgesetz freut uns, bedeutet es doch, dass kulturelle Teilhabe in diesen Bereichen als öffentliche Pflichtaufgabe gesetzlich verankert wird. Ebenso begrüßen wir die Verstetigung der Förderungen für die Jugendkunstschulen, der Kommunalen Galerien sowie der bezirklichen Kulturförderung.
Allerdings geht uns die reine Verstetigung und der angekündigt Ausbau von Angeboten der kulturellen Bildung nicht weit genug. Um die gesamte Breite der kulturellen Bildung angemessen abzubilden und nachhaltig auszubauen, fordern wir daher einen Runden Tisch Kulturelle Bildung mit allen relevanten zivilgesellschaftlichen Akteur*innen.
Darstellende Künste und Tanz
Im Bereich Darstellende Künste und Tanz vermissen wir die explizite Nennung freier Gruppen, freier Ensembles, freier Kollektive und Soloselbstständiger sowie Freier Spielstätten, die alle zur Vielfalt und Qualität der Berliner Kulturlandschaft beitragen. Die so wichtige und überfällige Entwicklung für den Tanz in der Hauptstadt seit Umsetzung der Maßnahmen aus dem Runden Tisch Tanz 2020 muss fortgesetzt und im Koalitionsvertrag verankert werden. Es braucht einen Verständigungsprozess zu den sieben Maßnahmen des Runden Tisch Tanz – darunter ein Haus für Tanz und Choreografie inklusive TanzArchiv und Tanzvermittlungszentrum – und konkrete Perspektiven. Die getane und anstehende Arbeit sowie die mittlerweile national und international als modellhaft angesehenen Programme dürfen nicht ins Leere laufen.
Musik
Die extrem breite und vielfältige Sparte Musik erscheint uns im Koalitionsvertrag unterkomplex beleuchtet. Dass die Musik lediglich im Kapitel „Clubkultur und Musikwirtschaft“ auftaucht, alarmiert uns höchstgradig. Hier wird lediglich das Musicboard als relevante „Einrichtung“ genannt sowie die internationale Ausrichtung betont. Keinerlei Erwähnung finden dagegen Alte Musik, Neue Musik, Jazz und zeitgenössische Musik sowie das zeitgenössische Musiktheater. Damit findet ein Großteil der Freien Musikszene im Koalitionsvertrag keinerlei Erwähnung.
Literatur
Zur Literatur finden sich lediglich zwei Sätze im Koalitionsvertrag. Ein differenziertes Verständnis davon, was Berlin zur Literaturhauptstadt macht, und konkrete Vorschläge zur besseren Förderung der Literatur vermissen wir.
Netzwerk Projekträume und -initiativen
Die über 180 in Berlin verteilten freien Projekträume und -initiativen werden ebenfalls nicht explizit benannt. Sie sind wichtige Katalysatoren für alle sich der Bildenden Kunst Berlins zugehörigen nationalen wie internationalen Kunst- und Kulturschaffenden. Zudem sind sie Orte der transdisziplinären Zusammenarbeit. Die weltweit einzigartige Berliner Projektraumszene samt aller beteiligten Projektraumbetreiber*innen, Künstler*innen und Kurator*innen verdient eine sich verstetigende Förderstruktur.
Film- und Medienkunst
Wir begrüßen die Würdigung von Berlin als exponiertem Film- und Medienstandort und das ressortübergreifende Engagement für Film und Medien als eigenständige Kultursparte.
Diskussionswürdig finden wir hingegen, dass das Medienboard als zentrale Förderinstitution festgelegt ist. Die bisherige Förderpraxis, die einem top-down Intendant*innenprinzip folgt und weitestgehend Wirtschaftsförderung ist, lässt wenig Raum für unabhängige Arbeiten von Filmemacher*innen, die jenseits herkömmlicher, marktorientierter Produktionszusammenhänge arbeiten. Sollte die Filmförderung weiterhin beim Medienboard gebündelt bleiben, sollte das Instrumentarium um eine nach transparenten Kriterien zu vergebende, für unabhängig Produzierende zugängliche Unterstützung (Förderung, Stipendien) erweitert werden – im Rahmen einer Weiterführung der Aufwüchse im Doppelhaushalt 2022/2023 für Dokumentar-, Animations- und Kinderfilmproduktionsförderung.
Die Würdigung der Rolle der vielfältigen Filmfestivallandschaft im Berliner Kulturleben begrüßen wir. Die versammelte Expertise des bestehenden Berliner Filmfestivalnetzwerks Festiwelt möchten wir bei der Ausgestaltung filmfestivalbezogenen Massßnahmen anbieten. Dessen 25 unabhängige Mitgliederfestivals (exklusive Berlinale) erreichen etwa 100.000 Zuschauer*innen jährlich, bringen Hunderte von Filmen zum Berliner Publikum, von denen ein nicht unbeträchtlicher Teil sonst hier nicht auf der Leinwand zu sehen wäre, stellen zahlreiche Arbeitsplätze, beauftragen Dienstleister*innen.
Die vielfältigen Kinos in Berlin sind unsere engen und langjährigen Partner; deshalb begrüßen wir ausdrücklich das Vorhaben, deren Unterstützung auszuweiten. Ferner fänden wir es sinnvoll, wenn auch die Berliner Filmfestivallandschaft in ihrer Vielfalt in diesem Kontext bedacht und gestärkt würde, z.B. durch Verstetigung des zweckgebundenen Aufwuchses für Filmfestivals im Medienboard-Etat im Doppelhaushalt 2022/2023 ab HH 2024.
Clubkultur
Die Überlegungen zur Aufhebung der Emissionsschutzgrenzen für Open-Air-Veranstaltungen stimmt uns skeptisch. Dadurch könnte die positive Haltung von Anwohner*innen gegenüber Kulturveranstaltungen im öffentlichen Raum weiter geschwächt werden. Hier scheinen die Interessen von Tourist*innen vor denen von Berlins Bewohner*innen zu stehen. Wir hingegen plädieren für die Berücksichtigung und Einbeziehung von Anwohner*innen-Interessen im Sinne eines wohlwollenden und wertschätzenden Miteinanders zwischen ihnen und Kulturveranstalter*innen.
Die Idee, in den in den Sommermonaten mehr Kulturveranstaltungen zu ermöglichen, begrüßen wir. Hierbei erscheint uns wichtig, dass die Programme in Zusammenarbeit mit der KdFS und den Spartenverbänden erfolgen und die Ausschreibungen transparent sind. Zudem sollte auch hierbei auf Anwohner*innenfreundlichkeit geachtet werden, um eine dauerhafte und umfassende Akzeptanz in der Nachbarschaft zu gewährleisten.
Digitalisierung
Die Einführung eines „Fonds Digitaler Wandel“ begrüßen wir grundsätzlich, können uns aber kein Bild davon machen, was dies konkret bedeuten könnte. Auch hier erwarten wir unbedingte Transparenz sowie Beteiligung bei der Ausgestaltung.
City Tax für die Freie Szene
Wir fordern weiterhin 100 % City Tax für die Freie Szene! Die jüngste Einführung der City Tax für Geschäftsreisende stellt hierbei eine wichtige zusätzliche Ressource für die Freie Szene dar.
Landesliegenschaften
Bei der Entwicklung und Anmietung von Landesliegenschaften erscheint uns die Formulierung „Wirtschaftlichkeit“ problematisch, da sie ungenau ist. Das Ziel, landeseigene Liegenschaften langfristig für kulturelle Nutzungen zu sichern, muss zudem unabhängig von der Wirtschaftlichkeit sein – andernfalls handelt es sich lediglich um eine Kosten-Nutzen-Kalkulation. Wenn die neue Koalition Kultur aber als elementar begreift – wie sie es in ihrer Präambel darstellt – und die Sicherung von Kulturnutzungen als Aufgabe der Daseinsvorsorge, dann muss sie diesen Wert auch über Wirtschaftlichkeitsabwägungen stellen und als ernstzunehmendes politisches Ziel verfolgen.
Viel zu viele freie Einrichtungen sind in prekären Mietverhältnissen mit privaten Eigentümer*innen. Die Miete steigt Jahr um Jahr und die Weiterführung der Mietverträge ist nicht gesichert. Wir fordern die Entwicklung landeseigener Liegenschaften wie der ehemaligen Flughäfen Tempelhof und Tegel sowie des ICCzu Kulturstandorte um die Anzahl der Räume für die Produktion und Präsentation freier Kunst und Kultur zu erhöhen. Dass die Alte Münze weiterhin zu einem nachhaltigen Kulturstandort entwickelt werden soll, begrüßen wir ausdrücklich.
Wir fordern bereits seit 2021 eine Aufstockung des Projekts zur Beschaffung künstlerischer Arbeitsräume (PROSA) sowie des Arbeitsraumprogramms (ARP). Leider findet sich hierzu keine Silbe im Koalitionsvertrag.
Gute Arbeit in der Kultur für alle
Wir begrüßen, dass die Koalition das Modellprojekt „Fairstage“ auswerten und ggf. ausweiten wird. Ebenso freuen wir uns über die Fortführung von Diversity Arts Culture und das Bekenntnis zur Erhöhung des Frauenanteils in Leitungspositionen.
Während wir die gute Absicht eines Diversitätsfonds (IMPACT-Förderung) zur Förderung einer diverseren und inklusiveren Kulturlandschaft generell anerkennen, sind wir doch skeptisch, ob ein separater Topf für zeitlich begrenzte Projekte den Querschnittsaufgaben Diversität und Inklusion gerecht wird. Hier besteht die Gefahr,marginalisierte Personen und Gruppen in einem Zusatzprogramm zu sammeln, während die Breite der restlichen Förderlandschaft unverändert bleibt. Zielführender wäre eine allgemeine Aufstockung aller Förderprogramme unter Berücksichtigung von Mehrausgaben für diversitätssensible Maßnahmen sowie eine diversere Jury-Besetzung aller Förderprogramme, um zu gewährleisten, dass Diversitäts- und Inklusionsorientierung nicht als Sonderaufgabe bzw. Problem der Betroffenen verstanden werden, sondern selbstverständlich in die Arbeit aller Kulturakteur*innen einfließen.
Neuer Ressortzuschnitt
Dass der*die neue Senator*in für „Kultur, Zusammenhalt, Engagement- und Demokratieförderung“ zuständig sein soll, erachten wir zunächst als Zeichen der Wertschätzung. Denn darin kommt die Bedeutung der Kultur für eine funktionierende Demokratie zum Ausdruck. Kunst und Kultur sind eben nicht nur Spaß, Unterhaltung und Luxus, sondern bieten essentielle Begegnungs- und Streiträume für eine funktionierende Demokratie.
Zugleich warnen wir aber vor einem zu weiten, allgemeinen Kulturbegriff, der jegliches demokratische Engagement und Ehrenamt in die Kulturförderung einbezieht. Die Autonomie von Kunst und Künstler*in muss gewahrt bleiben. Keinesfalls dürfen die ohnehin zu niedrigen Haushaltsmittel für das Ressort Kultur durch Ausweitung des Ressorts reduziert werden.
Wir fordern daher eine Stärkung der Selbstverwaltungsstrukturen der Verbände und Initiativen der Freien Szene. Denn ihre wichtige Arbeit – die auch die Verwaltung entlastet – wird fast ausschließlich im Ehrenamt geleistet. Ohne eine finanzielle Basisunterstützung der Verbände droht die Freie Szene langfristig weiteren Schaden zu nehmen. Stipendien, die speziell der Förderung des ehrenamtlichen Engagements von Kulturschaffenden dienen, oder die Verankerung von Aufwandsentschädigungen für Selbstverwaltungsarbeit in der Freien Szene könnten hier Abhilfe schaffen.
Viele gute Ansätze, wenig Konkretes
Insgesamt nennt der Koalitionsvertrag zwar eine Vielzahl von guten Ideen und Ansätzen zur Absicherung der Berliner Kulturlandschaft, die auch der Freien Szene zugute kommen könnten. Doch leider erschöpfen sich die meisten in der Absicht „zu prüfen“ und „zu stärken“, was insgesamt doch sehr unkonkret und unverbindlich ist.
Wir hoffen daher, der*dem zukünftigen Kultursenator*in und Staatssekretär*in die Arbeitsrealitäten, die Vielfalt und den Stellenwert der Freien Szene schon bald in persönlichen Gesprächen näherzubringen zu können, um Berlins Freie Szene weiterhin gemeinsam zu stärken und freuen uns auf eine konstruktive Zusammenarbeit.
Der Sprecher*innen-Kreis