Kunst sowie Kulturinstitutionen sind wesentliche Diskursräume der Demokratie und damit Orte zur Vorbeugung und Bekämpfung von Rassismus und Antisemitismus. Zahlreiche Kulturinstitutionen, Künstler*innen und Kulturarbeiter*innen haben sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten gegen jede Form von Diskriminierung und Rassismus positioniert, haben durch künstlerische Arbeitsweisen und Projekte Brücken gebaut und Räume für Verhandlung und Meinungsbildung geschaffen. Mit der Unterzeichnung der Berliner Erklärung der Vielen haben sie sich klar zu einer entsprechenden Verantwortung im Kampf gegen jede Form von Diskriminierung bekannt. Auch liegen der Arbeit der Künstler*innen und Kulturakteur*innen in Berlin ohnehin das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) und das Berliner Landes-Antidiskriminierungsgesetz (LADG) zu Grunde.
In diesem Sinne begrüßen wir Maßnahmen zur Bekämpfung von Antisemitismus sowie Maßnahmen gegen jede Form von Diskriminierung und Rassismus.
Nach ersten juristischen Einschätzungen verfehlt die aktuelle Form der neuen Antidiskriminierungsklausel (ADK) des Berliner Senats jedoch die angestrebten Ziele. Sie kollidiert mit dem Grundgesetz und bringt eine mannigfaltige Rechtsunsicherheit, zweifelhafte Praktikabilität und die Gefahr der Diskriminierung mit sich. Dies resultiert vor allem aus der engen Verbindung der Klausel mit der ausschließlich für Monitoring-Zwecke formulierten IHRA-Definition von Antisemitismus. Die Implementierung der Klausel wirft viele Fragen auf, welche rechtssicher beantwortet sein müssen, da sie ggf. erhebliche Rechtsfolgen sowohl für Institutionen als auch Künstler*innen nach sich ziehen kann – auch wenn sie von Seiten des Senats als deklaratorisch bezeichnet wird.
Wie wird die Einhaltung der Klausel überprüft und sichergestellt? Welcher Stelle / Funktion wird diese Aufgabe zuteilwerden? Unter welchen Gesichtspunkten würde eine Prüfung im Kulturbereich bei erheblich konkurrierenden Grundrechten (z.B. Kunstfreiheit, Meinungsfreiheit, die Freiheit, eine Meinung nicht zu haben etc.) erfolgen?
Wenn ein Schutz entstehen soll, muss transparent sein, in genau welchem Fall die Klausel greift, wer dies kontrolliert und entsprechende Konsequenzen zieht. Dies unbeantwortet und vage zu lassen, könnte ein Kontrollsystem etablieren, das missbraucht werden kann.
Wir, der Rat für die Künste, die Koalition der Freien Szene, der bbk berlin, der LAFT Berlin, inm berlin sowie festiwelt – Netzwerk Berliner Filmfestivals, rufen daher sowohl den Berliner Senat, insbesondere Kultursenator Joe Chialo, als auch die kulturpolitischen Sprecher*innen aller Parteien dazu auf, diese Antidiskriminierungsstrategie im gemeinsamen Dialog zu überarbeiten.
Wir glauben, dass gerade Kunst Räume öffnen kann, um vor dem Hintergrund unserer Verfassung eine Auseinandersetzung über Diskriminierung in unserem Land zu ermöglichen.
Wir fordern daher einen entsprechenden Diskurs, um gemeinsam mit Expert*innen und Verbänden in aller Offenheit zielführendere Lösungen gegen Antisemitismus und weitere Diskriminierungsformen zu entwickeln und stehen für diesen gerne zur Verfügung.
Für ein Miteinander in Vielfalt und Freiheit
Erläuterungen der Auswirkungen der Klausel auf den Kunst- und Kulturbereich und Vorschläge für alternative Ansätze
Nationalsozialismus und Holocaust stellen den größten Bruch in der Kulturgeschichte Deutschlands dar und mahnen uns, die Bedrohung des Antisemitismus ernst zu nehmen. Insbesondere angesichts des skrupellosen, terroristischen Angriffs der Hamas auf Israel und des darauf folgenden Krieges in Gaza gilt es auch im Kulturbereich, mit dezidierten Maßnahmen Verantwortung gegen Menschenhass zu übernehmen. So hat die Kultusministerkonferenz in der Folge der Terroranschläge erklärt, „die Bekämpfung des Antisemitismus, der Schutz jüdischen Lebens und die Gewährleistung eines Miteinanders in Vielfalt und Freiheit“ werde eine wichtige Rolle in der Arbeit deutscher Kultureinrichtungen einnehmen.
Künstler*innen und Kulturinstitutionen arbeiten seit Jahren daran, Räume zur kritischen Meinungsbildung zu schaffen, um Diskriminierung und Menschenhass vorzubeugen. Diese Räume des Dialogs müssen – wie von der Kultusministerkonferenz oder auch dem Deutschen Kulturrat angemahnt – ausgebaut werden.
Vor diesem Hintergrund ist das Vorhaben der Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt des Landes Berlin, sich dezidiert der Bekämpfung von Antidiskriminierung und Antisemitismus zu widmen, ein wertvoller Schritt. Selbstkritische Auseinandersetzung und präventive Antidiskriminierungsmaßnahmen müssen zum Instrumentarium der Kunst- und Kulturszene gehören. Kultur muss jetzt demokratische Räume des freien Austausches schaffen, die es vermögen, das kollektive Erinnern an die besondere historische Verantwortung Deutschlands substantiell in der Bevölkerung zu verankern und identitätsstiftende Wirkung zu entfalten. Doch die neue Antidiskriminierungsklausel (ADK) droht, diese Aufgabe zu erschweren und damit kontraproduktiv zu wirken. Die Klausel legt nahe, ein persönliches Bekenntnis der Antragsteller*innen zur IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus zur Grundlage jeglicher Kulturförderpolitik zu machen. Es ist zu befürchten, dass Antisemitismusbekämpfung damit auf eine einzige, nicht für diesen Zweck verfasste Definition enggeführt wird. Damit wird nicht nur die Komplexität des Antisemitismus unterschätzt, sondern zudem das Ziel der Antidiskriminierung gefährdet.
Denn die IHRA-Definition ist als Erkenntnisinstrument insbesondere für israelbezogenen Antisemitismus gut geeignet, war aber nie für eine rechtsverbindliche Verwendung in der Behördenpraxis bestimmt. Einer der Mitverfasser, Kenneth Stern, hat darauf in den letzten Jahren wiederholt hingewiesen und die Gefahr betont, dass sie zur Einschränkung von verfassungsrechtlich geschützten Freiheiten instrumentalisiert werden und die jüdische Selbstbestimmung gefährden könne.
Aus der Engführung auf die IHRA-Definition ergeben sich in der Praxis eine Reihe ungewollter Effekte: Gefährdung demokratischer Grundwerte wie Meinungs- und Kunstfreiheit (1.), Rechtsunsicherheit und unzulängliche Umsetzbarkeit (2.) und nicht zuletzt auch ein Bedeutungsverlust des Kreativstandorts Berlin (3.). Doch Demokratie, Meinungsfreiheit, Kunstfreiheit und der Kampf gegen Diskriminierung, Antisemitismus und Hass gegenüber Minderheiten gehören zusammen.
Um im Kulturbereich weiterhin und nun verstärkt Verantwortung gegen Diskriminierung übernehmen zu können, werden unter Punkt (4.) Maßnahmen zur nachhaltigen Antisemitismusbekämpfung vorgeschlagen, die kein konkurrierendes Spannungsverhältnis zum Grundgesetz entstehen lassen (unter Bezugnahme auf neuere juristische Beurteilungen).
1. Gefährdung demokratischer Grundwerte: Meinungs- und Kunstfreiheit
Mit der Klausel wird ein gefährlicher Präzedenzfall der Gesinnungsprüfung von Einzelpersonen geschaffen, die womöglich eine auf Dauer angelegte Überprüfungspflicht nach sich zieht. Das beeinträchtigt die persönliche Meinungsfreiheit als Eingriff in die „negative Meinungsfreiheit“ (die Freiheit, eine Meinung nicht zu haben), auch außerhalb der künstlerischen Arbeit. Hiermit droht ein Einfallstor für eine Logik von staatlicher Einflussnahme, die von rechtsextremen und antisemitischen Kräften wie der AfD missbraucht werden kann. Maßnahmen, die die Meinungsfreiheit einschränken, mögen kurzfristig dabei helfen, gefährliche Inhalte aus der Öffentlichkeit zu verdrängen. Doch sie können zu Radikalisierung in den Nischen führen, die Glaubwürdigkeit der demokratischen Institutionen schwächen und letztlich dem Kampf gegen Antisemitismus und Extremismus schaden.
In diesem Sinne droht der Ansatz der Antidiskriminierungsklausel – über den Umweg der Förderung – indirekt das zu erreichen, was direkt verfassungsrechtlich unmöglich wäre: eine inhaltliche Kontrolle der Kunst und damit eine eingeschränkte Kunstfreiheit. Wenn der Staat seine Förderung unter eine Bedingung stellt, übernimmt er faktisch die Inhaltskontrolle, verstößt also gegen den Geist der Kunstfreiheit und lässt Staatskunst entstehen.
Wegen der international kritisierten inhaltlichen Unbestimmtheit der IHRA-Definition kann diese auch gegen Formen der Kritik an israelischer Politik ausgelegt werden, die insbesondere im Kunstbereich möglich sein müssen. So würden z. B. in den letzten Jahren aus Israel nach Deutschland gezogene jüdische Künstler*innen, die die Politik ihrer aktuellen Regierung kritisieren, einen faktischen Ausschluss aus dem Fördersystem erfahren. Damit wäre das Paradoxon geschaffen, dass jüdische Stimmen in ihrer Vielfalt in Berlin nicht gehört werden und jüdisches Leben nicht umfassend geschützt wird.
Viele ausländische Künstler*innen werden sich nicht zur Reduzierung von Antisemitismus auf eine Definition bekennen wollen (darunter auch jüdisch-israelische Künstler*innen). Andere können sich unter Umständen aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht zur IHRA-Arbeitsdefinition bekennen. Zum Beispiel könnte die Unterzeichnung für iranische oder libanesische Staatsbürger*innen zu schweren, repressiven Konsequenzen in ihren Herkunftsländern führen. Somit entsteht durch die Klausel unintendiert, aber systematisch Diskriminierung gegen verschiedene Bevölkerungsgruppen.
2. Rechtsunsicherheit und unzulängliche Umsetzbarkeit der IHRA-Definition als Regulierungsinstrument
Die IHRA-Arbeitsdefinition ist ausdrücklich als nicht-rechtsverbindlicher Text verabschiedet worden. Neuere juristische Beurteilungen betonen, dass sie zwar als Monitoring-Instrument für Antisemitismus geeignet ist, aber als Regulierungsinstrument viel zu unpräzise ist, um Rechtssicherheit zu erzeugen oder Verwaltungspraxis zu etablieren. Nicht umsonst haben sich die Schweiz und die US-Regierung nach langer rechtlicher Prüfung der IHRA-Definition dagegen entschieden, diese als einzigen verbindlichen juristischen Text zu implementieren. Die USA beziehen sich auf mehrere Definitionen; der schweizerische Bundesrat empfiehlt eine wesentlich umfangreichere Definition, die die Fachstelle für Rassismusbekämpfung entwickelt hat.
Wegen ihrer mangelnden Rechtssicherheit sähen sich Berliner Behörden und Kulturinstitutionen im Zweifel mit Klageverfahren und Gerichtskosten konfrontiert. Es ist zudem fraglich, mit welchen Verfahren Behörden und Kulturinstitutionen die dauerhafte Einhaltung des Bekenntnisses zur IHRA verlässlich überprüfen können. Selbstverständlich ist höchstes Gebot, dass Einrichtungen Verantwortung dafür übernehmen, dass keine antisemitischen bzw. strafrechtlich relevanten Inhalte in die Kulturprogramme kommen. Doch unklar ist, wie der zusätzliche personelle und finanzielle Aufwand der Überprüfung der persönlichen Meinung von Künstler*innen dauerhaft im Alltagsbetrieb aufgebracht werden soll, insbesondere weil die IHRA-Definition keine klaren Richtlinien zur Orientierung bietet und viel Raum zu Interpretation, aber auch Missbrauch lässt.
Aus Rechtsunsicherheit und fragwürdiger Umsetzbarkeit der Klausel resultieren Fragen wie: Müssen Kulturinstitutionen und Antragsteller*innen bzw. Zuwendungsempfänger*innen zukünftig ihre Mitarbeiter*innen auf Gesinnung, politische Einstellung etc. überprüfen? Welche Überprüfungsverfahren sind mit Blick auf Datenschutz zulässig? Auf welcher Grundlage kann die Befolgung der ADK festgestellt werden, wenn die zugrundeliegende Definition kein Handwerkszeug dafür mitgibt?
3. Gefahr für die Attraktivität des Kreativwirtschaftsstandorts Berlin
Die Kreativwirtschaft, inklusive der Clubkultur, hat Berlin zu einem attraktiven Ort für globale kreative Entrepreneurs gemacht. Doch die ADK birgt die Gefahr das internationale Renommee Berlins als Wirtschaftsstandort der Kreativbranche zu verspielen. Einerseits sind Konsequenzen zu befürchten, wenn die rechtsstaatliche Reputation international in Misskredit gerät, wie etwa wirtschaftliche Auswirkungen, die über den Kultursektor hinausgehen und den Tourismus oder auch die Gründer*innen- und Startup-Szene betreffen. Die Glaubwürdigkeit eines exzellenten Kulturstandorts zerbricht, wenn nicht die Qualität der Kunst, sondern die politische Meinung über den Zugang zu Förderung entscheidet.
Andererseits gefährdet die ADK die internationale Zusammenarbeit und damit Flaggschiffe von Berlins „soft-power“ wie Biennalen, internationale Kunst-, Film-, Tanz- und Theaterfestivals sowie Künstler*innenstipendien und -austauschprogramme. Fraglich ist, wie Kooperationen mit institutionellen oder zivilgesellschaftlichen Akteur*innen aus Staaten erfolgen sollen, welche die IHRA-Arbeitsdefinition nicht anerkennen. Angesehene und erfolgreiche Programme und Institutionen zur Förderung internationalen Austausches (DAAD, IfA, Goethe-Institut, Stiftungswesen) können so erhebliche Einschränkungen erfahren.
4. Vorschläge zur Antisemitismusbekämpfung im Einklang mit dem Grundgesetz
Vor dem Hintergrund der internationalen Kritik an der IHRA haben Wissenschaftler*innen mittlerweile Alternativen und Ergänzungen entwickelt, die international anerkannt sind, insbesondere die Jerusalem Declaration On Antisemitism(JDA) aus dem Jahr 2021 oder das White Paper der Nexus Task Force. Beide Initiativen legen konkrete Leitlinien vor, auf deren Grundlage der Kulturbereich seine Verantwortung in der Antisemitismusbekämpfung wahrnehmen könnte. Angesichts der aktuellen Entwicklungen ist es umso notwendiger, effektivere Maßnahmen zu entwickeln, die auf den Stand der neueren Antisemitismusforschung aufbauen, wie z. B.:
* Kompetenzentwicklung und Know-How-Aufbau: Einbeziehung verschiedener Antisemitismus-Definitionen und vielfältiger jüdischer Perspektiven in Dialogprozesse und zur Erarbeitung eines umfassenderen Antisemitismusverständnisses im Kulturbereich statt der Reduzierung auf einen nicht rechtssicheren Zugriff wie der IHRA-Arbeitsdefinition.
* Stärkung, Vernetzung und Ausbau der Antidiskriminierungsstrukturen an Kulturinstitutionen und in Kulturverbänden, Ausbau von Schulungen und Beratungen zur Sensibilisierung für Antisemitismus, Rassismus und weitere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit im Lichte aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse.
* Erweiterung der Angebote kultureller Bildung, um Fördermittel, Wissen und Netzwerke zur Verfügung zu stellen, die neue Konzepte gegen Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus in der aktiven Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ermöglichen.
* Entwicklung neuer Dialogformate, die die Gedenk- und Erinnerungskultur Deutschlands als Migrationsgesellschaft etablieren und Bürger*innen, die nicht den historischen Bezug zum Nationalsozialismus teilen, abbilden und aktiv einbinden.