Am Samstag, den 14.5.2022, wird um 14 Uhr im Herzen von Kreuzberg–Nord der „Pfad der Visionäre“ eröffnet. Das Projekt wurde vom Künstler Bonger Voges initiiert, dem Verein Kunstwelt e.V. realisiert, von privaten Sponsoren finanziert und wird auf öffentlichem Straßenland umgesetzt. Projektpartner sind u.a. die Botschaften der 26 übrigen EU-Staaten – das Vereinigte Königreich wurde nach dem Brexit von der Teilnahme ausgeschlossen.
Die Idee: Jede EU-Botschaft wählt ein visionäres Zitat aus dem jeweiligen Land aus. Diese 27 Zitate (inklusive des deutschen) werden zusammen mit der jeweiligen Landesflagge in Steintafeln gemeißelt und in den Boden des Kreuzberger Mehringplatzes eingelassen.
Hier wurde ein mäßig originelles Konzept auf katastrophale Weise umgesetzt. Ins Auge sticht zunächst, dass offenbar nur weiße und überwiegend (23 von 27) männliche Europäer*innen zu visionären Gedanken fähig sind. Der nicht gegenderte Projekttitel scheint Programm zu sein. Man muss kein*e Befürworter*in von strengen Quoten in allen Lebensbereichen sein, um zu erkennen, dass hier kein auch nur annähernd repräsentatives Bild vom heutigen Europa gezeichnet wird. Das ist nicht das Europa, was wir auf den Straßen Berlins und sämtlicher anderer Städte des Kontinents sehen und auch nicht das, was wir uns wünschen und wofür die europäische Idee angeblich steht und die EU wirbt. Für einen multiethnischen, transnationalen und diversen Stadtteil wie Kreuzberg und insbesondere für dessen nicht-weiße Bewohner*innen ist das geradezu eine Ohrfeige. Hier werden, so das Signal, weite Teile der Bevölkerung von der Gestaltung der europäischen Vision ausgeschlossen.
Die Zitate stammen aus der Antike, teils aus Aufklärung und 20. Jahrhundert. Größtenteils haben sie rein gar nichts mit Europa oder Politik zu tun, sondern beschreiben allgemeine menschliche Eigenschaften, Erfahrungen und Werte. Die kosmopolitischen Denker*innen und Künstler*innen dahinter würden sich im Grab umdrehen, für die Konstruktion einer nationalstaatlich getragenen Idee von Europa herhalten zu müssen. Allein die Idee, unzusammenhängende historische Zitate als „europäische Visionen“ in Stein zu meißeln, ist ideologisch entlarvend – rückwärtsgewandt statt in die Zukunft blickend. Es ist aber natürlich ein sehr sprechendes Bild für die Deutungshoheit einer Dominanzkultur, die sich als historisch geschlossene Einheit imaginiert und einen Urheberanspruch auf Werte wie Frieden, Freiheit und Toleranz erhebt, um damit einen zukünftigen Führungsanspruch zu legitimieren. Das Vorgehen betont ein Europa der Nationalitäten und der Nationalkulturen – Konzepte und Begriffe, die heutzutage im öffentlichen Diskurs allenfalls noch bei nicht demokratischen und nicht weltoffenen Gruppierungen wie der AfD und Konsorten anzutreffen sind.
Die Außenwirkung ist die eines selbstzufriedenen Europas, das sich ethnisch definiert, überkommene Dominanzstrukturen fortschreibt und sich nach außen abschottet.
In Stein gemeißelte Sound-Bites weißer Männer sind kein adäquater Umgang mit Literatur, mit Kunst, mit Bürger*innen, mit öffentlichem Raum. Hätte man die unmittelbaren Anwohner*innen, hätte man die Schüler*innen der benachbarten Galilei- und Liebmannschule oder der Kurt-Schumacher-Grundschule an der Gestaltung „ihres“ Platzes beteiligt, so hätte das Ergebnis sicherlich anders ausgesehen. Auch die im Quartier bereits gewachsenen soziokulturellen Strukturen wie das Bildungsnetzwerk Südliche Friedrichstadt sowie Kultureinrichtungen wie das Jüdische Museum, HAU – Hebbel am Ufer, die Berlinische Galerie und Supermarkt Berlin hätten einbezogen werden können. Stattdessen haben Botschaftsmitarbeitende und prominente Nicht-Künstler*innen ästhetische Entscheidungen ohne eine öffentliche Debatte getroffen.
Erneut zeigt sich, dass problematische Strukturen zu problematischen Ergebnissen führen. So darf mit öffentlichem Raum nicht mehr umgegangen werden. Die Gestaltung und Nutzung öffentlichen Raums erfordert transparente, demokratische Beteiligungs- und Entscheidungsprozesse unter Einbeziehung auch engagierter Akteur*innen und der Menschen, die hier leben. Erst dann können Bewohner*innen und Nutzer*innen diesen Raum im Sinne des Wortes als Raum für die Öffentlichkeit und nicht als Projektionsfläche für die Ideen und Vorstellungen einiger Weniger wahrnehmen.
Wir fordern, hier die Notbremse zu ziehen und eine vollständige Neukonzeption bzw. Überschreibung der Platzgestaltung in öffentlicher Federführung unter breiter Bürger*innen-Beteiligung durchzuführen!
Weitere Info hier: PFAD DER VISIONÄRE